Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?

Dieses Jahr bleiben die Kirchen auch in der Karwoche und Ostern für die Gottesdienste geschossen.
Die Menschen werden zu Hause hinter verschossenen Türen sitzen, wie die Jünger Jesu nach seinem Tod. Die Jünger (männlichen Schüler Jesu) trauten sich nicht heraus, einige Frauen schon, wenn auch nicht ganz sorglos. 

Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?, dachten sie und fragten einander?
Da war keine Zusammenkunft angedacht, nach dem Motto, denen (wem auch immer) werden wir es zeigen. Das war wohl mehr ein, ich kann nicht anders in trauernder Ruhe. Ich kann es den Frauen nachempfinden, glaube ich zumindest.
Denn Aufgeben ist der Tod, der innere und der äußere.
Am 18. März diesen Jahres war ich zu meiner regelmäßigen Blutuntersuchung in der Universitätsklinik in Dresden. Die Blutwerte, sind nicht alle im Normbereich, aber viel besser als im letzten Jahr. Meine Abwehrkräfte sind gestiegen. Das war viele Monate im vergangenen Jahr anders.
Seit fast einem Jahr gehe ich regelmäßig ins Labor der Universitätsklinik in Dresden.
Dort traf ich immer andere Patienten und vor allem Patientinnen und auch Kinder. Manchmal kamen mir welche, auch im Hochsommer mit Mundschutz entgegen. Vielleicht trugen sie selbst irgendwelche Keime in sich.
Die meisten der Frauen traf ich dann im Wartebereich der diensthabenden Ärztin, bei der auch ich meinen Termin hatte, wieder. Sie trugen alle etwas Bedrohliches in sich. In ihrem Körper hatten sich Krebszellen vermehrt, nicht vielleicht, sondern real. Bei vielen ist u.a. auch durch die Chemotherapie die Immunabwehr geschwächt. Manchmal gibt es Gelegenheit für ein kurzes Gespräch. Sehr viele von ihnen sind noch nicht im Rentenhalter, manche noch sehr jung.
Der Tod ist viel realer als bei anderen gleichen Alters, auch wenn Krebs behandelbar ist. Die Behandlung hilft den einen mehr, den anderen weniger. Die Frauen wollen leben, auch wenn sie nicht wissen, wie lang. Manchen von Ihnen gelingt es, die Prioritäten in Ihrem Leben neu zu setzen, sich auf das Wesentliche zu besinnen.
Die Diagnose Krebs isoliert auch, scheint eine Wand zwischen sich und den nicht betroffenen aufzubauen.
Als ich an diesem Tag der jungen Oberärztin gegenübersaß, entschuldigte sie sich bei mir für die Maske in ihrem Gesicht. Sie hatte weder Husten noch Schnupfen, mit dem sie mich hätte anstecken können und ihr war wohl bewußt, dass die offene Begegnung mit freundlichem freien Gesicht psychische Nähe schafft.
Nicht dass Vorsicht unsinnig wäre, wie ja bei den Kranken und Geschwächten im Labor. Aber es sind nicht nur Keime, die uns schwächen, sondern es ist auch die Angst. Je mehr Menschen mit Masken herumlaufen, umso mehr verbreitet sich die Angst, kann sie zur Panik werden. Ängstlichkeit schwächt das Immunsystem. Je mehr Angst, umso mehr kann ein Keim auch psychisch geschwächte Menschen angreifen. Als Krankenhausseelsorgerin war ich oft bei Krebskranken, die ich mit großem Respekt und guten Erfahrungen für mich selbst begleitet hatte.
Aber ich erinnere mich auch an einen Mann, der zwei Wochen nach seiner Krebsdiagnose tot war. Er konnte für sich keine Lebenschance mehr sehen, trotz der Therapieangebote der Ärztinnen und Ärzte, trotz aller mutmachenden Worte seiner Ehefrau. Auch sie war der festen Überzeugung, dass er an seiner Angst, seiner Hoffnungslosigkeit gestorben war. Was für ein Tod! 

Jesus, erst 33 Jahre alt, hatte auch Angst, berechtigte Angst, wollte nicht sterben, an der Angst der anderen, vor den ängstlichen Entscheidungen der Verantwortungsträger. Er betete, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. 

Wir Menschen wollen aus dem Kelch des Lebens trinken. Deshalb gingen die Schülerinnen Jesu aus dem Haus vor seiner Kreuzigung und danach, um Jesus nahe, um nicht in ihrer Angst eingekerkert zu sein. 

Nach dem Gespräch mit der Ärztin ging ich ans nahegelegene Elbufer an diesem sonnigen Frühlingstag. Dort waren schon viele unterwegs wie sonst nur an Sonn- und Feiertagen, zu zweit, zu dritt oder mit ihrem Hund. Eltern mit Säuglingen, Kinder, Jugendliche, Studierende, Menschen im berufstätigen Alter, aber auch über 65 Jahre, zum Beispiel mit einer jungen Frau an der Seite. 

Ich fühlte mich sehr wohl auf diesem Spaziergang. Die Lungen füllten sich tief mit frischer Luft, frei und lebendig. Nur wäre ich gern wie die meisten anderen mit jemandem an meiner Seite gewesen, mit dem ich die Freude darüber noch hätte teilen können.
Als ich fast am blauen Wunder angekommen war, kam mir eine ältere Frau mit einem verlegenen Lächeln, gestützt auf einen Rollator, entgegen. 

Irgendwie erinnerte sie mich an die alten Menschen, die ich in meiner Kindheit traf, gebeugt, auf ihren Stock gestützt, den die gichtigen Hände mühsam festhielten, wenn ich von der Schule nach Hause ging und die meinen Gruß gelassen freundlich lächelnd erwiderten: „Gut’n Tog, Madel“.
Es war ihrem Körper anzusehen, dass sie an ihrem eigenen Körper zu tragen hatten, wovon ein gesundes Kind noch nichts weiß und sich über der Körperhaltung wundert. Und doch konnten sie freundlich lächelnd zurück grüßen. Gelebte Weisheit der Alten, die damals hier im Ort fast alle nur eine sehr kleine Rente hatten und nur für die wenigen Jahre, die ihnen verblieben. 

An ihren Gruß erinnere ich mich auch deshalb, weil er Wirkung hatte.
Auch wenn es in der Schule mal nicht so gelaufen war, wie erhofft, bei einem solchen Gruß kam die Welt wieder ins Lot. Ein guter Tag, war mir gewünscht worden und zwar von Menschen, die aus einem langen Leben wussten, was gute und was schlechte Tage sind und manchmal sah ich, dass viele noch im Sarg, das Lächeln auf dem Gesicht hatten. 

Meine Wahrnehmung heute z.B. aus Geburtstags- und Krankenbesuchen ist oft, viele Alte scheinen zu verdrängen, dass sie alt sind und sie ein langes Leben hatten, manchmal auch wenn sie im Nachbarbett neben einer sehr viel jüngeren Person liegen, die Krebs hat.
Wir brauchen die alten Menschen, die freundlichen und gelassenen, die uns durch ihre Anwesenheit und Begegnung lehren, dass die Kraft im Leben jedes Menschen weniger wird und die damit gelassen und freundlich umgehen können, damit sie uns Vorbild sind beim alt und weise werden. 

Um unsere Begrenztheit durch den Tod zu wissen und doch jedem Tag das Leben abzugewinnen und weiterzugeben, das haben die Frauen am Grab Jesu versucht, wenn auch mit vielen Fragen: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? (Markus 16,3) 

(Adelheid Wolf, Rittersgrün)